010 – Schreibende Frauen gibt es nicht, Teil 1

Kennt ihr schreibende Frauen der Antike oder des Mittelalters? Wir bis heute auch nicht! Cara Sewing stellt uns einige Autorinnen vor und erklärt uns, warum bzw. unter welchen Voraussetzungen man nicht allem trauen kann, was man liest.

Unser Gast Cara Sewing, von der sämtliche Übersetzungen in diesem Beitrag stammen, klärt zu Beginn den Irrtum auf, dass Latein nicht schön klingen kann. Dann geht es medias in res, zu den Autorinnen:

Welche kennen wir denn so und warum sind es gefühlt so wenige? Ist Schreiben eine primär männliche Domäne?

Antike: die beiden Sulpiciae (die Ältere, 1. Jhdt. v. Chr., Elegienzyklus; und die Jüngere, 1. Jhdt. n. Chr., Satiren / Elegien)

Mittelalter: Hugeburc von Heidenheim (8. Jhdt., schreibt Hagiographien), Dhuoda (9. Jhdt., Liber manualis, eine christliche Sittenlehre), Hrotsvit von Gandersheim (10. Jhdt., um die geht es diesmal, später mehr), Herrad von Hohenburg (12. Jhdt., enzyklopädische Wissenssammlung Hortus deliciarum), Hildegard von Bingen (12. Jhdt., Visionsberichte, Begründerin lat. myst. Literatur von Frauen), Caritas Pirckheimer (15./16. Jhdt., humanist.-weibl. Bildung als Ideal)

=> es GIBT schreibende Frauen, aber im Vergleich zu den schreibenden Männern sind es sehr wenige! Warum? Misogyne Gesellschaften, klare Geschlechterhierarchien, „Frauen bringen nur Unglück“ (Büchse der Pandora), aber auch Christentum: Frau als Einzugstor des Teufels (Eva, die den Apfel pflückt und Adam zur Sünde verführt) => Einfluss darauf, welche Bildung Frauen zugute kommt und damit auch, wer schreiben kann. ABER: Dieses Bild ist im Mittelalter NICHT einheitlich, man kann nicht pauschal sagen, dass Frauen „im Mittelalter“ keine gesellschaftliche Relevanz hätten oder dass weibliches Literatentum immer unmöglich gewesen sei! (Obwohl das auch in der Hrotsvit-Forschung immer wieder passiert – was man aber, so Cara, für Hrotsvits Zeit nicht unbedingt sagen kann)

Fun Fact zu anonym überlieferten Texten: bei einigen Annalen ohne Autor:in aus Frauenklöstern (z.B. Quedlinburg) ist immer von DEM VERFASSER die Rede – warum?! Alternativ: Viten der Königin Mathilde, die immer DEM anonymen Verfasser zugeschrieben werden – aber Mathilde hat einen großen Teil ihres Lebens im (Frauen-)Kloster Quedlinburg verbracht… => nicht alle anonymen Werke stammen von Frauen, aber es lohnt sich, den historischen Kontext zu berücksichtigen… Wichtig: Nur eine gesellschaftliche Elite hat (in Klöstern, Domschulen etc.) Zugang zu Bildung, und dazu gehören auch die Frauen! In der für Hrotsvits Schaffen relevanten Zeit sind die zentralen Klöster, die der Herrschaftsfamilie am engsten verbunden sind, FRAUENklöster (Gandersheim und Quedlinburg), und die sind vom intellektuellen Niveau her nicht minderwertig oder so. => Für Hrotsvits (elitäres) Umfeld ist das Faktum, dass sie eine Frau ist und als solche schreibt, überhaupt nichts Ungewöhnliches… => Hrotsvit ist als Frau zwar tendenziell benachteiligt, aber ihr gesellschaftlicher Rang gleicht das zu einem gewissen Grad aus!

Memoria (Erinnerungskultur) als Instrument zur Herrschaftslegitimation von Adelsgeschlechtern (in Hrotsvits Zeit v.a. der Ottonen) unterliegt v.a. Frauen (Genderskript), und dazu gehören auch Klöster für die eigene Familie. Zusätzlich kann es von einem materiellen Standpunkt betrachtet sinnvoller für die Dynastie sein, die Töchter von Königen, Herzögen, Kaisern etc. nicht zu verheiraten (weil man dadurch die familiäre Macht und Besitztümer aufsplitten würde). Deshalb sind die Frauenklöster so bedeutsam in Hrotsvits Zeit. In der Zeit von 939-1022, der für Hrotsvits Schaffen relevanten Zeit, im ottonischen Sachsen 23 Frauenklöster gegenüber neun Männerklöstern, und auch in der Hierarchie sind die beiden wichtigsten Klöster (Quedlinburg und Gandersheim) Frauenkonvente. => Bildung ist in dieser Zeit kein männliches Privileg!

Was ist (im Mittelalter) überhaupt ein:e Autor:in?

Die Kompetenz, die jemanden zum Autor:insein befähigt, würden wir heute vielleicht in Studienzeit, schriftlicher Ausdrucksfähigkeit oder Renommee, also von INNEN, suchen. Im Mittelalter ist das aber beim Verfassen christlicher Texte anders: Sich selbst als Autor:in Kompetenz zuzuschreiben, wäre stolz (und Stolz ist im Christentum schließlich eine Todsünde) und eine Anmaßung (praesumptio). Stattdessen gibt es die Legitimation von AUSSEN, nämlich durch Gott, der dazu befähigt, über göttliche Inhalte zu schreiben. => Modell „doppelter Autorschaft“: menschliche:r Autor:in, göttlich inspiriert, als bloßes Instrument des eigentlichen Autors, Gott. Und diesen göttlichen Anteil gilt es bei der Legitimation von Autorschaft möglichst in den Vordergrund zu stellen.

Außerdem geht es in der christlichen Literatur ganz stark darum, ob der Text wahr ist. Ein Gemeinplatz der christlichen Literatur ist etwa die Behauptung, antik-pagane Texte seien zwar sprachlich schön, aber nicht wahr – die hatten schließlich noch nicht Christus und der ist die Wahrheit. => großes auktoriales Selbstbewusstsein christlicher Autor:innen gegenüber antik-paganen Autor:innen

Wer ist jetzt diese Hrotsvit und woher wissen wir etwas über sie?

Wir „wissen“ nur von Hrotsvit durch ihr literarisches Werk! Die sind aber literarisch überformt und geprägt von Konventionen => man kann das, was Leute in Texten schreiben, nicht gleichsetzen mit dem, was die Personen in Wahrheit sind! (In der Hrotsvit-Forschung wurden aber oft Parallelen zwischen dem Ich im Text und der realen Hrotsvit gezogen…)

Wir wissen: Diese Person markiert sich in den Paratexten zu ihrem Werk explizit als Frau und nennt sich Hrotsvit Gandershemensis, sie spricht auch eine gewisse Gerberg als Äbtissin von Gandersheim an (Gerberg II. 935-973, Nichte von Otto I.) => Lebensdaten Hrotsvits: 10. Jhdt., Hrotsvits Wirkungszeit fällt in die Zeit des Aufstiegs und der Machtsicherung Ottos I. (der wird 962 in Italien zum Kaiser gekrönt); Hrotsvit ist Teil dieses elitären Kreises im Gandersheimer Kloster

Was bedeutet es für Hrotsvit, eine Frau zu sein? In der Forschung wurden viele Vorstellungen über das moderne Frausein oder über das Frauenbild im Mittelalter in Hrotsviths Äußerungen hineininterpretiert, ohne das näher zu begründen! => Zirkelschluss

Schauen wir uns diese Selbstaussagen mal anhand von Beispielen an.

Deshalb fürchte ich auch, der Verwegenheit angeklagt zu werden, und die Fallstricke der Vorwürfe so vieler nicht umgehen zu können, weil ich mir anmaßte, das, was mit prachtvoller Beredsamkeit und fein ausgefeilt dargelegt werden müsste, durch die Niedrigkeit meines ungepflegten Sprachgebrauchs zu entehren. (Praef III 8)

Paratexte begleiten einen eigentlichen Text, stehen daneben und liefern oder kreieren Hintergrundinformationen. Der Begriff der Verwegenheit (temeritas) und die Angst, dessen angeklagt zu werden, wird von sehr vielen Autoren verwendet und kommuniziert! => Entweder hatten die alle wirklich Angst (das kann man aber nicht bestätigen oder widerlegen, immerhin können wir bei diesen Autoren nicht anrufen oder so), oder wir klassifizieren diese Angst als einen Topos („Gemeinplatz“) => nicht ausschließlich individuelle Angst, sondern Konvention (und rhetorische Strategie der affektierten Bescheidenheit)! Stolz wäre ja keine Option (weil Todsünde). => wir können diese Aussage interpretatorisch nicht nutzbar machen, weil sie vermutlich (auch) rhetorisch / christlich / vor dem literarischen Hintergrund funktionalisiert ist.

Außerdem spricht das Ich hier von seinem „ungepflegten Sprachgebrauch“ – auch das ist ein Topos, der sich bei vielen anderen mittelalterlichen Autor:innen findet. In der Forschung an männlichen Autoren wird diese Topik auch als Topos erkannt. Bei weiblichen Autorinnen dagegen wird dieser Topos dagegen als biographische Selbstaussage interpretiert, dass „Hrotsvit“ hier also über ihre „mangelnde Bildung“ reflektiert => Zirkelschluss!

Gibt es speziell „weibliche“ Topik der Schreiblegitimation? => Spanily 2002. Aber: Cara findet diese Frage problematisch, denn: Wie will man das herausfinden? Verschiedene Autorinnen durchzugehen und gemeinsame Elemente zu suchen, weil die Abgrenzung zu „männlicher Topik“ fehlt.

Was macht Hrotsvit denn ganz anders als andere, anders als die Topik?

Textstellen von prominenten Stellen, am Anfang oder Ende der Vorreden, in denen das traditionelle Bild aus der Topik durchbrochen wird:

Dieses Büchlein, das nur wenig Schmuck und Zierde enthält, aber dennoch mit nicht geringer Sorgfalt erarbeitet wurde, bringe ich dem Wohlwollen aller Weisen dar, damit sie es von seinen Fehlern bereinigen; jedoch nur derjenigen, die sich nicht daran ergötzen, jemandem, der einen Fehler gemacht hat, die Fähigkeiten abzusprechen, sondern die vielmehr Freude daran haben, dessen Fehler zu berichtigen. Ich bekenne nämlich, nicht geringfügig geirrt zu haben, nicht nur, was die Kenntnis der natürlichen Silbenlängen anbelangt, sondern auch bei der Formulierung von Aussagen; zudem bekenne ich auch, dass Vieles in dieser Schriftenreihe verborgen liegt, was der Kritik würdig ist; aber es ist leicht, dem zu verzeihen, der seine Fehler bekennt, und Verfehlungen verdienen eine fromme Zurechtweisung.
(Praef I 2)

Zunächst gibt es hier das ganz topische Eingeständnis der eigenen sprachlichen Fehlbarkeit, und darum bittet das Ich seine Adressaten darum, diese zu korrigieren (auch das ist topisch). Dann folgt eine Aussage auf der Metaebene, in der sie die Topik unterwandert: Sie macht die eigentlich implizite Erwartungshaltung aus der Topik explizit, dass man durch die Bitte um Wohlwollen seine Leserschaft gewogen stimmen kann.

Kritik verliert dort ihre Kraft, wo Unterwürfigkeit einschreitet, die Fehler eingesteht.
(Praef I 9)

Hier benennt das Ich seine Unterwürfigkeit explizit und weist gewissermaßen mit dem Zeigefinger darauf, um zu zeigen, dass deshalb alle Kritik ihre Kraft verliert. Das ist, so Cara, ein Spiel, eine gewisse Ironisierung mit der literarischen Tradition und dadurch ziemlich witzig. Das ist überhaupt nicht topisch.

Mehr gibt es in der nächsten Folge!

Literaturangaben:

Bodarwé, K., 2013: Hrotsvit and Her Avatars. In: Brill’s Companion to Hrotsvit of Gandersheim (fl. 960). Contextual and Interpretive Approaches, hrsg. v. P. R. Brown und S. L. Wailes. Leiden/Boston, S. 329–362.

Cescutti, E., 1998: Hrotsvit und die Männer. Konstruktionen von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ in der lateinischen Literatur im Umfeld der Ottonen. Eine Fallstudie. Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 23. München.

Leyser, K. J., 1984: Herrschaft und Konflikt. König und Adel im ottonischen Sachsen. Göttingen.

Spanily, C., 2002: Autorschaft und Geschlechterrolle. Möglichkeiten weiblichen Literatentums im Mittelalter. Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Brüssel.

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