In der ersten Folge des neuen Jahrs befassen wir uns mit Inschriften. Wir lernen, dass sie quasi vom Waffeleisen bis zum Stück Stoff auf allem stehen können, inklusive Dingen, die niet- und nagelfest sind. So habt ihr Texte noch nie gesehen!
Unser Gast diese Folge ist Mona Dorn, die im Projekt „Die Deutschen Inschriften“ arbeitet. Es ist an fast allen Akademien der Wissenschaften (bearbeiten v. a. geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung in Langzeitprojekten) in Deutschland und Österreich angesiedelt: Aufgeteilt nach Bundesländern edieren sie dort sortiert nach Landkreisen bzw. kleineren Gebieten verschiedenste Inschriften (von Spätantike / Frühmittelalter – wo das Corpus Inscriptionum Latinarum aufhört) bis ins Jahr 1650. Zunächst werden Inschriften aus Sekundärliteratur gesammelt, anschließend fotografiert und gemessen (man beachte das Verhältnis von Inschrift zu Inschriftenträger: ist es ein kleiner Gegenstand mit verhältnismäßig großer Schrift oder umgekehrt?) und ediert. Dazu werden Katalognummern vergeben, ggf. eine Übersetzung angefertigt, ein Kommentar erstellt (zu textbezogenen Fragen, den vorkommenden Personen oder Ereignissen…) sowie eine ausführliche Einleitung. Es gibt mittlerweile knapp 100 Bände, die jeweils zwei Jahre nach Publikation online auf der Website www.inschriften.net verfügbar gemacht werden. Indices in diesen Bänden sind beispielsweise: Standorte, Personen, Inschriftenträger, vorkommende Ortsnamen, Ikonographie, Versmaße… Nicht aufgenommen in die Editionen werden serielle Inschriften oder Texte anderer Spezialdisziplinen (z. B. Siegel oder Münzen oder Papyri etc.) – es gibt aber Grenzfälle, wie beispielsweise mit Pergament bespannte Holztafeln. Dann ist die Frage, wie man Inschrift überhaupt definiert.
Also, was sind Inschriften überhaupt für Texte? Mona liefert uns eine etwas komplizierte Definition, die sich in etwa so zusammenfassen lässt: Inschriften sind Texte, die nicht mit Tinte und Feder geschrieben wurden und die auf Dingen stehen, die nicht aus Papier oder Pergament bestehen. Andere Definitionen umfassen etwa die Öffentlichkeit des Gegenstandes oder dessen Dauerhaftigkeit. Der Textbegriff ist dementsprechend sehr weit und die Texte häufig sehr kurz. Außerdem gibt es oft eine konkrete Beziehung zwischen dem Text und dem Objekt, auf dem er steht, indem dieser das Objekt beispielsweise thematisiert. (Das ist bei Texten, die in Büchern stehen, in der Regel nicht der Fall). Außerdem bewegen sich Texte von diesen Objekten in der Regel auch nicht weg, sondern sind (in der Regel!) einzig darauf fixiert. Auch Graffiti sind nach dieser Definition Inschriften. Mit „In“schrift i.S.v. „in das Objekt hineingeschrieben sein“ hat dieser Inschriftenbegriff allerdings nichts zu tun. Inschriften können auch erhaben oder gemalt oder gestickt… sein, solange es sich nicht um Tinte und Feder auf Pergament / Papier handelt.
Ein und derselbe Text ist immer nur für ein und dasselbe Objekt gedacht, während bei Handschriften beispielsweise oft eine weitere Verbreitung und Zirkulation angedacht ist. Deshalb fällt beim Edieren von Inschriften häufig der Schritt des Kollationierens weg. Wenn sich in den bearbeiteten Inschriften Fehler finden, werden diese, anders als bei kritischen Editionen anderer Texte, die (charakteristischen) Fehler in den Haupttext gestellt und in der Anmerkung korrigiert. Das liegt daran, dass Inschriften in der Regel von Leuten ausgeführt werden, die selbst kein Latein können (z. B. Steinmetze). Weitere Schwierigkeiten bei der Arbeit mit Inschriften: Die Ortsfestigkeit (auf Leitern und Kirchtürme klettern notwendig). Der Erhaltungszustand (Inschriften sind oft draußen! Oder philologisch schlecht restauriert). Nicht immer wird direkt „vom Objekt“ ediert: Immer wieder sind Inschriften nur in Form von indirekten Zeugnissen wie etwa Reisetagebüchern greifbar, die eigentliche Inschrift ist manchmal bereits verloren.
Monas Lieblingsinschriften:
a) die Grabplatte der Herzogin Sophia von Mecklenburg (hier gibt’s ein Foto), Nikolaikirche Wismar: sehr qualitätvolle Schrift (Gotische Minuskel bzw. Bandminuskel); charakteristisch ist der Detailreichtum und die Verschränkung der Buchstabenhasten ineinander. Die Oberlängen sind gestaltet wie flatternde und gerollte Bänder, die sich miteinander verschlingen. Monas Urteil: Sehr schön!
b) die Inschriften auf dem Grabdenkmal von Georg Achtermann, m. 1647, Wolfenbüttel Hauptkirche Beate Marie Virginis: aus philologischer Sicht interessant! Die Inschrift selbst ist nicht erhalten, nur eine Abschrift. Hier die Übersetzung von Mona:
Erste Inschrift: „Fremder, der du hier stehst, störe meine Totenruhe nicht; ich selbst habe in meinem Leben ja auch niemandem etwas zuleide getan. Ich, Georg Achtermann, Doktor beider Rechte, liege hier begraben. Braunschweig hat mich hervorgebracht, die berühmte Academia Julia (Universität Helmstedt) hat mich, der ich mit besonders guten Sitten und geistiger Begabung mehr als meine Altersgenossen ausgestattet war, ausgebildet. Nachdem ich die Gewohnheiten und Sinnesart sehr vieler Länder – welch ein Meer an Nichtigkeiten! – gesehen hatte, trat ich öffentlich auf die Bühne und leistete am erlauchten welfischen Gerichtshof bei der Entscheidung von Streitsachen meinen Dienst. Während ich nach der Vorschrift des höchsten Regisseurs das Stück meines eigenen Lebens in der rechten Weise aufführte, siehe, da schnitt mir ein allzu früher Tod die blühendsten Jahre und allen Guten die höchsten Erwartungen auf reichste Früchte für das Gemeinwesen ab: am 7. Dezember im Jahr Christi 1647, als ich 33 Jahre alt war.“
Zweite Inschrift: „Ach, törichter Mensch, du glaubst, dass der Tod noch fern ist, wenn er dich doch schon in seiner gierigen Hand hält! Erkenne deinen Irrtum wenigstens aus meinem Schicksal. Solange ich fromm gelebt habe, habe ich gut gelebt. Das Schauspiel (die Komödie) meines Lebens ist zu Ende, das deine läuft gerade. Leb wohl, spende Beifall, und geh deines Weges.“
Übersetzung: Mona Dorn. Die Edition der Inschrift und die Übersetzung werden voraussichtlich 2025 im Band „Die Inschriften des Landkreises Wolfenbüttel und der Stadt Salzgitter, bearbeitet von Christine Wulf und Mona Dorn“ im Dr. Ludwig Reichert Verlag Wiesbaden erscheinen.
Viele gelehrte Anspielungen: Grabepigramm Vergils (Mantua me genuit <=> Brunsvica me genuit), Anfang der Odyssee (nachdem ich die Gewohnheiten und Sinnesarten vieler Länder gesehen hatte), Vorstellung des menschlichen Lebens als Schauspiel, relativ häufige Abschiedsformel „vale et abi“, „plaudite“: Terenz-Komödien!, Anklänge an Iamben, Sueton-Vita des Augustus: „Hab ich das Schauspiel meines Lebens gut gespielt?“, Seneca an Lucilius: „Es kommt im Leben wie im Theater nicht darauf an, wie lange es dauert, sondern, wie gut es war“ – Achtermann wurde nur 33 Jahre alt.
Man weiß häufig nicht, von wem eine Inschrift stammt! Auch wenn es sich hier so anhört, als stamme sie von Achtermann selbst, sollte man sich davor hüten, das Ich in einem Text automatisch mit dem Autor gleichzusetzen. Mehr dazu in einer künftigen Folge ;) Vielleicht ist das „ich habe gut gelebt“ eine Anspielung auf die Gattung der antiken Komödie, wo sich viele Figuren selbst überschätzen? Häufig steht in Inschriften zwar ein Lob auf einen Verstorbenen, aber weniger aus der ich-Perspektive. Diese ist auch keine Standard-Inschrift.