Es geht um Stilfragen, Weiblichkeit und Esel. Willkommen zur (bis dato) längsten Folge von Errare Romanum est.
Zur Einführung erzählt uns Cara von einem anderen Missverständnis, mit dem sie konfrontiert war („Latein ist wie Mathe“) und Katharina fasst die wichtigsten Erkenntnisse der letzten Folge zusammen, die da wären: 1. Es gibt wenige (lateinisch) schreibende Frauen im Mittelalter (und in der Antike), ABER es gibt sie. 2. In ottonischer Zeit gab es mehr als doppelt so viele Frauen- wie Männerklöster im Reich. 3. Göttliche Inspiration (und damit verbunden die eigene Demut) legitimiert im Mittelalter zum Schreiben, und darauf Bezug zu nehmen (sowie auf die persönliche schriftstellerische Unfähigkeit) ist topisch, also Konvention, und nicht unbedingt auf Eigenschaften des:der Autor:in zurückzuführen. Vorsicht! Vor allem, wenn wir Autor:innen nur aus literarischen Werken kennen. Nicht alles, was nicht Topos ist, kann man als Hinweis auf den:die Autor:in lesen, das ist ja immer noch Teil der literarischen Selbstdarstellung!
Und jetzt medias in res! Wurde Hrotsvits Autorschaft jemals angezweifelt?
Ja, mehrfach, zu verschiedenen Zeitpunkten! Zum Beispiel, weil man sich im 19. Jhdt. nicht vorstellen konnte, dass es im 10. Jhdt., also in Hrotsvits Zeit, eine so fundierte Ausbildung für Frauen gab, dass eine Frau Werke wie Hrotsvits schreiben konnte. => gleichzeitig hohe Sprachkompetenz als Kriterium für Misstrauen – ZIRKELSCHLUSS. Diese These wurde Ende des 20. Jhdt. nochmal aufgegriffen. Beides wurde jedoch widerlegt. Man würde dem Werk nicht seine Echtheit aberkennen, wenn es von einem Mann geschrieben worden wäre. (Widerspruch: Einerseits glaubt man der Sprecherfigur im Werk, sie könne nicht gut Latein schreiben, aber andererseits sagt man: „Das ist literarisch so wohlgeformt, das kann keine Frau geschrieben haben“…)
Was ist Maßstab für sprachliche Richtigkeit und guten Stil aus Perspektive einer Autorin wie Hrotsvit? Wie passt das Sprachniveau zum Inhalt?
In der Klassischen Philologie gibt es die Konvention, zeitliche Perioden mit einem Werturteil zu versehen („Goldene Latinität“ und „Silberne Latinität“ zum Beispiel). Aber: Die damit eingeschlossenen Werke sind ja Ausdruck eines zu dieser Zeit aktuellen Stilideals und damit Teil des Zeitgeists! Außerdem gibt es ja individuelle Unterschiede im Stil. Es bringt wenig, Seneca mit Cicero oder Lucan mit Vergil zu vergleichen – ein Schluss, den man daraus ziehen könnte, ist, dass sie anders sind, aber nicht besser oder schlechter.
Man muss differenzieren: Die Stilvorstellungen des Mittelalters sind ganz stark geprägt von patristischer Literatur (= Kirchenväter). In der Antike sagt z.B. Quintilian, dass die Sprache zum Inhalt passen muss (also z.B. Figuren aus der Oberschicht = hoher Stil). => aptum-Theorie („aptum“ heißt passend) – Situation im Mittelalter: Viele Leute schreiben über göttliche / religiöse Inhalte, aber die Bibel, also DAS Werk zu diesen Themen, ist in sehr einfacher Sprache gehalten! => Umdeutung der aptum-Theorie: Kein Sprachstil kann aus christlicher Perspektive hoch genug sein, Gott zu illustrieren. Das Passende für göttliche Inhalte ist demnach sehr niedriger Stil, in Analogie zur Bibel, zumal er auch die demütige Haltung des:der Autor:in wiederspiegelt (vgl. humilitas-Topik aus der letzten Folge).
Man muss aber wieder differenzieren zwischen dem, was Texte zu tun vorgeben und dem, was sie tatsächlich tun. Vielleicht bedient ein:e Autor:in die humilitas-Topik rein formal und betont die eigene Inkompetenz, greift stilistisch aber gleichzeitig in die Vollen. Das zeigt mal wieder die Macht des Topos (und dass man nicht alles wörtlich nehmen darf, was man so liest). Kriterien für als „gut“ empfundene Werke im Mittelalter können zum Beispiel Rezeptionsspuren und weitere Überlieferungsträger.
Aber er (Christus), der einst einem dummen Esel befahl, zum Lob seines eigenen Namens das Wort zu ergreifen […], der besitzt, so es ihm beliebt, auch die Macht, meine Zunge zu lösen, mein Herz mit dem Tau seiner Gnade zu benetzen, damit ich, da er mir sein mildes Erbarmen schenkt, holde Dichtung verfasse, und auch dich, Jungfrau, besinge.
I Maria 31–44
Die Sache mit dem Esel ist eine Anspielung auf eine Bibelstelle und – wieder – auf göttlich inspiriertes Sprechen. Damit ist die mögliche „Dummheit“ der Autorin total irrelevant: Relevant ist nur die Inspiration. Gerade dann zeigt sich die Größe Gottes, wenn die Dummen zum Sprechen gebracht werden, und gerade die erwählt Gott (vgl. z.B. Bergpredigt). => Alles, was menschlich ist (Status, Fähigkeiten, Mittel), ist für die Legitimation christlicher Autorschaft unbedeutsam. Im Gegenteil, es ist ein Vorteil, gesellschaftlich schwach zu sein, weil Gott gerade die Schwächsten zu den Stärksten macht. Es ergibt also für christliche Autoren im Mittelalter Sinn, sich schwach zu gerieren, weil gerade das Potential für göttliche Inspiration bietet. => Hrotsvit nutzt die Paratexte, um sich als besonders schwach zu zeichnen, auch als weibliches Wesen (Misogynie!). Aber umso mehr zeige sich Gott in ihr. – Schwäche und Stärke, „je-desto-Narrativ“.
Wie wird Weiblichkeit bei Hrotsvit literarisch dargestellt?
In den Paratexten wird also Hrotsvits eigene Weiblichkeit genutzt, um sich als besonders schwach (fragilis) darzustellen und gleichzeitig Lob zu ernten.
Der Spender meines Talents (= Gott) möge umso mehr und zu Recht in mir gelobt werden, je träger der weibliche Verstand gilt.
II Epist 9
Man beachte das „gilt“ (creditur)! Die weibliche fragilitas wird nie als Faktum dargestellt!
Auf Figurenebene wird ebenfalls von einer Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts ausgegangen, was aber auch nie von den Frauenfiguren selbst behauptet, sondern immer von außen an diese herangetragen wird.
Der Sieg der Triumphierenden erweist sich als umso glorreicher, besonders, wenn die weibliche Zerbrechlichkeit siegt und die männliche Stärke der Verwirrung unterliegt.
II Praef 5
=> „Gerade weil die Frauenfiguren schwach sind, zeigt sich Gott in diesen Figuren umso stärker und diese Frauen werden letztlich durch Gottes Hilfe siegen“.
In beiden Fällen ist die Schwäche also eine Befähigung, von Gott als Instrument erwählt zu werden und göttliches Wirken zu manifestieren. Göttliche Stärke, weibliche Schwäche als Nexus / Wechselwirkung zwischen Selbstdarstellung in den Paratexten und den Figuren im Werk. Weiblichkeit nicht als Nachteil, sondern als Vorteil!
Welche Konzepte von Weiblichkeit gibt es in Hrotsvits Werk und welche Bedeutung haben sie für die außerliterarische Dimension?
Zwei Formen von Weiblichkeit: a) „weltlicher Entwurf“: allgemeine Vorstellung weiblicher Unterlegenheit und generell Misogynie in Nachfolge Evas, b) „geistlicher Entwurf“: virginitas („Jungfrauentum“) in Nachfolge Marias, in denen sich Gott zeigt und die am Ende immer siegen. Beide sind gleichermaßen präsent. In den Paratexten stellt sich Hrotsvit als Kanonissin vor, positioniert sich also innerhalb einer Umgebung, die dem gleichen Ideal folgt wie die positiv besetzten Frauenfiguren in ihrem Werk!
Der einzige Sohn des Hochthronenden, gezeugt vor der Erschaffung der Welt, der voll Erbarmen für den Menschen von der Hochburg seines Vaters hinabstieg und von der Jungfrau geboren wahrhaftig die Gestalt des Fleisches annahm, um die bittere Kostprobe, die die erste Jungfrau tat, zunichte zu machen, – er segne die Speisen auf dem Tisch, der gnädig für uns gedeckt ist.
I App: Benedictio ad mensam 1–5
Im Akt der Geburt Christi wurde die Sünde der ersten Jungfrau, Eva, zunichte gemacht, durch die zweite Jungfrau, Maria. Gegenüberstellung zweier Formen von Weiblichkeit. Im Kontext des Gandersheimer Frauenkonvents, in dem dieses Tischgebet womöglich verlesen wurde, folgen ja alle Zuhörerinnen (primäre Adressatinnen) diesem Ideal der Jungfräulichkeit Marias! Das innertextliche Ideal legitimiert die Lebensform der Rezipientinnen, die dieses Ideal realisieren.
Diese virgines treten im Text auch in himmlischen Scharen auf (turmae virgineae); in die werden Frauen zur Belohnung nach dem Tod aufgenommen, die um ihre Jungfräulichkeit kämpfen. Schauen wir nochmal auf die Stelle mit dem Esel:
Aber er, der einst einem dummen Esel befahl, zum Lob seines heiligen Namens das Wort zu ergreifen, und der bewirkte, dass du, Jungfrau, durch das Wort des Engels aus dem Heiligen Geist in Würde die Leibesfrucht empfingst, […] genau der besitzt, so es ihm beliebt, auch die Macht, meine Zunge zu lösen und mein Herz mit dem Tau seiner Gnade zu benetzen, damit ich, da er mir sein mildes Erbarmen schenkt, holde Dichtung für ihn verfasse und auch dich, Jungfrau, besinge, auf dass ich nicht in einer Reihe mit den undankbaren Trägen zu Recht verurteilt werde, die es verdrießt, für den Hochthronenden in rhythmischen Liedern zu singen, sondern mich lieber darum verdient mache, eingereiht in die jungfräulichen Scharen auf ewig das purpurne Lamm zu preisen.
I Mar 31–44
Hrotsvit als Jungfrau aus dem Gandersheimer Konvent will, als Instrument Gottes, mit ihrer Dichtung um ihre Jungfräulichkeit kämpfen, wie ihre Figuren, und in die jungfräulichen Scharen aufgenommen werden, wie ihre Figuren! => die jungfräulichen Scharen verbinden gewissermaßen die Figuren mit der Autorinneninstanz in den Paratexten.
Inwiefern sind Hrotsvit und das Vorbild Terenz im Hinblick auf das Frauenbild miteinander vergleichbar?
Terenz (Schulautor im Mittelalter!): „Sex and crime“ – Prostituierte und Zuhälter, Seeräuber, junge Verliebte, Ehebruch, Vergewaltigung, ungewollte Schwangerschaft und co. Und Hrotsvit als christliche Autorin und Jungfrau in Mariennachfolge behauptet in ihren Texten, sie wolle Komödien schreiben wie Terenz. Das irritiert erst einmal. Das Personal wird ausgetauscht durch christliche Held:innen und die gesamte Handlung der Komödie dient dem Lob Gottes. Bei Terenz sind die Frauen in erster Linie lüstern und auf materiellen Reichtum fixiert, sehr weltlich alles, bei Hrotsvit gibt es dieses geistige Ideal der Jungfräulichkeit. Und Hrotsvit stellt einer nicht-christlichen Gattung (Komödie) mit nicht-christlichem Umfeld (Stichwort sex and crime) ihr christlich-jungfräuliches Lebensideal innerhalb ihrer Dichtung gegenüber und überbietet so – auf inhaltlicher Ebene, nicht auf sprachlicher – das Vorbild Terenz. Wie ihre Figuren in ihrer Dichtung kämpft Hrotsvit also literarisch gegen einen paganen Gegner. Dichtung mit und durch Gott quasi.
Weshalb ich, die Kräftige Stimme Gandersheims, nicht ausschlug, jenen [= Terenz; C. S.] in Sprache und Stil nachzuahmen, während andere ihn ehren, indem sie ihn lesen, damit in der gleichen Darstellungsform, in der die schändliche Unzucht frivoler Weiber vorgetragen wurde, die löbliche Keuschheit heiliger Jungfrauen – sofern es mein geringes Talent und meine Fähigkeiten zulassen – gepriesen wird.
II Praef 3
=> Der (christliche) Sieg wird zurückgeführt auf die Weiblichkeit!
Wo ist jetzt die reale Hrotsvit, wo die Figuren und wo die Autorinneninstanz?
Man kann nicht die reale Hrotsvit mit der Autorinneninstanz gleichsetzen. WICHTIG. Die Autorinneninstanz als schreibendes Ich in den Paratexten erzeugt aber an mehreren Stellen Parallelen zwischen den auftretenden Figuren in ihrem Werk und dem realen Entstehungskontext des Werks (Gandersheimer Konvent) bzw. sich selbst: im Hinblick auf Jungfräulichkeit, Weiblichkeit, göttliche Inspiration, Schwäche. Das dient auch der Rechtfertigung der Autorinnentätigkeit Hrotsvits! Die reale Hrotsvit steht also irgendwo auf der Grenze zwischen literarischer Figur und Autorinneninstanz.
Literaturangaben
Bodarwé, K., 2013: Hrotsvit and Her Avatars. In: Brill’s Companion to Hrotsvit of Gandersheim (fl. 960). Contextual and Interpretive Approaches, hrsg. v. P. R. Brown und S. L. Wailes. Leiden/Boston, S. 329–362.
Cescutti, E., 1998: Hrotsvit und die Männer. Konstruktionen von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ in der lateinischen Literatur im Umfeld der Ottonen. Eine Fallstudie. Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 23. München.
Leyser, K. J., 1984: Herrschaft und Konflikt. König und Adel im ottonischen Sachsen. Göttingen.
Spanily, C., 2002: Autorschaft und Geschlechterrolle. Möglichkeiten weiblichen Literatentums im Mittelalter. Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Brüssel.